Lebendige Positionen

Eyal Lerner
Eyal Lerner 

Israe­lisch-ita­lie­ni­scher Musi­ker, Regis­seur und Päd­ago­ge, der sei­ne mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Pro­jek­te meis­tens der jun­gen Gene­ra­ti­on wid­met, seit Som­mer 2020 an der Neu­en Schu­le Wolfsburg.

Dr. Brigitta Ritter
Dr. Brigitta Ritter 

Dr. phil., ist Didak­ti­sche Lei­te­rin der Neu­en Schu­le Wolfs­burg, unter­rich­tet dort Musik, Thea­ter, Deutsch.
brigitta.ritter@neue-schule-wolfsburg.de

Eyal Lerner
Eyal Lerner 

Israe­lisch-ita­lie­ni­scher Musi­ker, Regis­seur und Päd­ago­ge, der sei­ne mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Pro­jek­te meis­tens der jun­gen Gene­ra­ti­on wid­met, seit Som­mer 2020 an der Neu­en Schu­le Wolfsburg.

Dr. Brigitta Ritter
Dr. Brigitta Ritter 

Dr. phil., ist Didak­ti­sche Lei­te­rin der Neu­en Schu­le Wolfs­burg, unter­rich­tet dort Musik, Thea­ter, Deutsch.
brigitta.ritter@neue-schule-wolfsburg.de

Fort­set­zung: Der Beginn des fol­gen­den Tex­tes wur­de abge­druckt in Heft 78 der Zeit­schrift für Thea­ter­päd­ago­gik, S. 32–33.

Eyal Ler­ner: Online-Didak­tik kann neben dem Regis­trie­ren der ein­zel­nen Ergeb­nis­se stär­ker noch ver­bor­ge­ne Poten­tia­le ent­de­cken. Wenn jeder wahr­neh­men darf, dass sei­ne per­sön­li­che Arbeit wert­ge­schätzt wird, stei­gen Selbst­ach­tung und Selbst­ver­trau­en. Wäh­rend dies für vie­le Fächer gilt, ist es für den Thea­ter­un­ter­richt fun­da­men­tal, dass das eige­ne inne­re Wachs­tum mit der Klas­se als Thea­ter­kom­pa­gnie ein­her­geht. Unter­schied­lich­kei­ten und Indi­vi­dua­li­tä­ten kön­nen ein­gangs blo­ckie­ren, aber gera­de durch indi­vi­du­el­le online-Unter­stüt­zung künst­le­ri­schen und mensch­li­chen Reich­tum ent­wi­ckeln. Das ist mein Ver­ständ­nis von einer wah­ren Theaterkompagnie.

Bri­git­ta Rit­ter: Manch­mal bleibt im Unter­richt kaum Zeit für Belo­bi­gun­gen und Wert­schät­zung – auch das ist online sehr viel indi­vi­dua­li­sier­ter mög­lich. 

Ler: Und das gilt umso mehr, wenn wir mit Schü­lern online ein Brain­stor­ming eröff­nen – wie wir es für thea­tra­le Aspek­te hin­ter den Kulis­sen began­nen. Z.B. ent­wi­ckel­te ein Schü­ler Kos­tü­me, und die Zeich­nun­gen ste­hen jetzt der Musi­cal-Com­pa­gnie zur Ver­fü­gung. Oder ein ande­rer Schü­ler mel­de­te sich für die Tanz­sze­nen und ent­warf Cho­reo­gra­phien und zeich­ne­te sich selbst tan­zend. So ent­stand unser Trai­nings­ma­te­ri­al. Dadurch wird noch viel stär­ker, als ich es frü­her erleb­te, das Stück für die Jugend­li­chen bedeut­sa­mer, glei­cher­ma­ßen auch fri­scher und eine jun­ge Inter­pre­ta­ti­on, denn z.B. der Tanz­stil ent­spricht weni­ger den klas­si­schen Inter­pre­ta­tio­nen des Musi­cals, son­dern gewinnt qua­si im jugend­ge­mä­ßen Tanz­stil eine noch stär­ke­re Akzen­tu­ie­rung des The­mas. 

Rit: Ein Bereich, den unser Fach­be­reichs­lei­ter jah­re­lang auf­ge­baut hat und den mitt­ler­wei­le die Schü­ler erobert haben, ist die Ver­an­stal­tungs­tech­nik als ein wei­te­res Bei­spiel: Ich kann mich an dei­ne Begeis­te­rung dar­über erin­nern und war selbst ver­blüfft, wie schnell unse­re für die Licht­tech­nik zustän­di­gen Schü­ler dein Büh­nen­bild­mo­dell in ein digi­ta­les 3D-Modell mit unse­ren Büh­nen­ma­ßen umsetz­ten, dir sen­de­ten und mitt­ler­wei­le die Licht­stim­mun­gen mit unse­ren tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten ein­rich­ten. Letzt­lich wird somit auch das Leis­tungs­spek­trum unse­rer Schü­ler für uns Leh­rer umfäng­li­cher erfahr­bar als es Schul­fä­chern zuge­ord­net sein könn­te. Und wir ler­nen die Per­sön­lich­kei­ten unse­rer Schü­ler viel facet­ten­rei­cher ken­nen. 

Ler: Das ins­be­son­de­re, weil die Gren­zen zwi­schen cine­as­ti­schen, video- wie audio­tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten und Schnitt­tech­ni­ken mit einer Büh­nen­prä­senz live immer enger ver­schmel­zen kön­nen. Zahl­rei­che Chor- und Orches­ter­auf­füh­run­gen ent­stan­den in den letz­ten Mona­ten online, und ich den­ke, dass wir im Bereich der thea­tra­len Küns­te ähn­lich prä­sen­tie­ren kön­nen: Ich möch­te behaup­ten, dass uns zukünf­tig der Blick und die tech­ni­schen Fähig­kei­ten der Jugend­li­chen sehr loh­nen­de krea­ti­ve Wege eröff­nen wer­den. Das kön­nen wir Lehr­kräf­te gezielt anbah­nen und begleiten.

Auf­bau­en unse­rer neu­en Traditionen

Rit: Gera­de jetzt, in die­ser Zeit Anfang des Jah­res, kann dies eine sinn­vol­le Mög­lich­keit sein, um die Kin­der und Jugend­li­chen in den ver­schie­de­nen ver­ord­ne­ten, hybri­den Sze­na­ri­en auf eine glei­cher­ma­ßen ruhi­ge wie ziel­stre­bi­ge Art krea­tiv tätig wer­den zu las­sen. Wir wer­den das in unse­rem 10. Jahr­gang, im Wech­sel­mo­dus anwe­send, erpro­ben: In der bis­he­ri­gen Unter­richts­zeit haben wir bio­gra­phisch zu Tra­di­tio­nen geforscht – eige­ne als Kind erfah­re­ne, Fami­li­en­mit­glie­der als Zeit­zeu­gen, kul­tu­rell-natio­na­le, reli­giö­se – und es ent­stan­den vie­le selbst geschrie­be­ne Tex­te, die wir nun für die fina­le Büh­nen­show im März insze­nie­ren woll­ten. 

Ler: Und das wer­den wir nun online ent­wi­ckeln. Es gibt so vie­le Mög­lich­kei­ten – Audio-Auf­nah­men von erleb­ten Geschich­ten, mit Fotos hin­ter­legt; doku­men­ta­ri­sche Tex­te oder Fak­ten oder Bild­do­ku­men­te, mit einer Ton­spur hin­ter­legt; Fami­li­en­fo­tos, mit dia­lo­gi­schen, inter­na­tio­na­len Sprach­auf­nah­men; kur­ze Vide­os mit viel­leicht sogar meh­re­ren Fami­li­en­mit­glie­dern „in Sze­ne gesetzt“ – wenn wir schon das Zuhau­se der Schü­ler ein­be­zie­hen sol­len, kön­nen wir es eben­so, je nach fami­liä­rer Mög­lich­keit auch thea­tral ange­hen. Auf die­se Wei­se kann das Zuhau­se sogar ein thea­tra­les Labo­ra­to­ri­um sein, in dem alle Fami­li­en­mit­glie­der Prot­ago­nis­ten wie Publi­kum sein können.

Rit: Lass‘ uns an die­ser Stel­le reflek­tie­ren, was von unse­rem schul­cur­ri­cu­la­ren Thea­ter­un­ter­richt, den wir ab Jahr­gang 7 anbie­ten, in der hybri­den Form bleibt: Wo sehen wir berei­chern­de neue Mög­lich­kei­ten und wo gibt es aber auch Begren­zun­gen, die uns her­aus­for­dern, neue Lösun­gen zu fin­den? Mir fiel eben auf, dass mit einer rein online erstell­ten Pro­duk­ti­on etwas sehr Wich­ti­ges fehlt, näm­lich den Applaus ent­ge­gen­neh­men zu kön­nen, der ein sehr befrie­di­gen­des Ele­ment jeder Auf­füh­rung für die Künst­ler und für das Publi­kum ist, weil er der lan­gen Arbeit und dem Ergeb­nis Ach­tung und Wert­schät­zung erweist. Strea­ming-Mög­lich­kei­ten sind wert­voll und berei­chernd, kön­nen aber den unmit­tel­ba­ren Applaus als Aus­druck vie­ler Zuschau­er nicht erset­zen. Was kann ohne Publi­kum für eine Auf­füh­rung moti­vie­ren? Wir wer­den über Feed­back-For­men neu nach­den­ken müssen.

Ler: Das stimmt. Was kom­pen­sie­ren könn­te, ist der emo­tio­nal-sozia­le Aspekt, dass die Jugend­li­chen die Huma­ni­tät, Ein­heit und wech­sel­sei­ti­ge Unter­stüt­zung erfah­ren. Wir schen­ken dem Pro­zess nun noch mehr Auf­merk­sam­keit als dem Resul­tat. Und für den pro­zess­haf­ten Unter­richt gibt es online nun wie­der sehr berei­chern­de Per­spek­ti­ven, die auf Ein­zel­ne, Klein­grup­pen oder Klas­sen­en­sem­bles ange­passt wer­den kön­nen: Im direk­ten Kon­takt kann unmit­tel­bar kor­ri­giert, ange­regt, erprobt und rück­ge­mel­det wer­den, und die Rück­mel­dung kann eben­so zwi­schen den Mit­schü­lern statt­fin­den. Lesen, Ana­ly­sie­ren, Dia­lo­ge üben, stimm­li­che wie mimi­sche Übun­gen, vor allem z.B. Emo­tio­nen über die Augen aus­zu­drü­cken, sind online durch die Kame­ra wie unter einer Lupe mög­lich. Extre­me Gesichts­aus­drü­cke und voka­le Extrem­ex­pres­sio­nen sind gewöhn­lich im Klas­sen­un­ter­richt live weni­ger leicht umsetz­bar, laden aber online oder per Video fest­ge­hal­ten zu Expe­ri­men­tier­freu­de und Dis­kus­si­on ein.

Rit: Das gilt für vie­le Berei­che ele­men­ta­ren Thea­ter­un­ter­richts, da gebe ich dir Recht. Eher begrenzt sehe ich die Mög­lich­kei­ten für alle zu ler­nen­den Ele­men­te, die mit Bewe­gung zu tun haben – die Brei­te ges­ti­schen Reper­toires, Kör­per­hal­tun­gen, Bewe­gun­gen im Raum: Nicht alle Jugend­li­chen haben grö­ße­re Zim­mer zu Hau­se, und die Kame­ra hält nur einen Aus­schnitt bereit – ich den­ke, die­sem Bereich wer­den wir dann im Prä­senz­un­ter­richt viel Auf­merk­sam­keit wid­men. Vor­erst kön­nen wir sie dar­an erin­nern, auf­zu­ste­hen, im Ste­hen zu spie­len, auch Kos­tü­me, Fri­su­ren und Acces­soires einzubeziehen.

Ler: For­men von Zeit sind digi­tal künst­le­risch gestalt­bar: Wie­der­ho­lun­gen, slow­mo­ti­on, free­ze, breaks. Simul­ta­ni­tä­ten sind wahr­schein­lich schwie­ri­ger, auch tech­nisch wegen der Abhän­gig­keit von Licht­qua­li­tä­ten auf­wen­di­ger mög­lich. Hier kön­nen wir den Blick schu­len, sich selbst ins rech­te Licht zu rücken, also auch das Aus­leuch­ten für die Kame­ra­prä­senz zu gestal­ten. – Das Timing in gespro­che­nen Dia­lo­gen kann wie­der­um sehr expe­ri­men­tell und detail­liert geübt wer­den. 

Rit: Mir kommt ein wei­te­rer Aspekt in den Sinn, der eine ein­zig­ar­ti­ge Berei­che­rung der­zeit dar­stellt: Ich fand es beson­ders schön, in einer ers­ten online-Grup­pen­pro­be mit Schü­lern aus den Jahr­gän­gen 6, 10 und 13 vor den Weih­nachts­fe­ri­en, zu sehen, wie gera­de die jüngs­ten hoch moti­viert und leis­tungs­stark wie selbst­be­wusst mit den älte­ren Mit­schü­lern prob­ten. Gera­de in die­sen von COVID bestimm­ten Mona­ten, in denen jahr­gangs­ver­bin­den­des Begeg­nen so strikt regle­men­tiert wer­den muss­te, ist dies für die Kin­der und Jugend­li­chen und für unse­re Schul­kul­tur ins­ge­samt von sehr gro­ßer Bedeutung.

Ler: Glei­ches gilt für das Sin­gen. In die­sem Schul­jahr muss­te es bis­her gänz­lich aus­ge­setzt wer­den, und wir sind noch immer in guter Hoff­nung, dass wir im Som­mer alle Musi­cal­num­mern öffent­lich sin­gen wer­den dür­fen. Also blieb uns von Beginn an nur die Mög­lich­keit – und das zeich­ne­te sich schon früh als sehr gro­ße Berei­che­rung ab – den häus­li­chen eige­nen Raum und die unbe­grenz­te Ver­füg­bar­keit der App zum Üben, frei von der Mas­ke, ver­bun­den in der online-Kom­mu­ni­ka­ti­on für das Stu­di­um der Solo- wie Chor­num­mern zu nut­zen. Jetzt haben die Schü­ler ihre Stim­men simul­tan zur Auf­nah­me geübt, und wir kön­nen sie im online-Unter­richt zusam­men­brin­gen. Zwar nicht syn­chron, aber wenn sich alle stumm­schal­ten, kön­nen abwech­selnd ein­zel­ne hör­bar wer­den. Und wenn wir schon in der Distanz zu unter­rich­ten haben, ist dies doch eine gelin­gen­de Ver­bin­dung von Haus­auf­ga­ben, ein­zel­un­ter­richt­li­chen Kor­rek­tu­ren und Gruppenunterricht.

Rit: Wie lau­tet jetzt am Ende unser Fazit?

Ler: Die­se Mona­te stel­len uns mit Restrik­tio­nen für die künst­le­ri­schen Arbeits­mög­lich­kei­ten in Anwe­sen­heit der Schü­ler sowie mit dem Gebot des online-Unter­richts vor sehr gro­ße Her­aus­for­de­run­gen. Gera­de auch das Sit­zen vor dem Com­pu­ter in phy­si­scher Iso­la­ti­on über Stun­den ist nicht gesund. Umso wich­ti­ger ist es daher, dass wir Leh­rer unse­re Schü­ler ermu­ti­gen, auf­for­dern und dar­in wert­schät­zen, ihre Poten­tia­le wei­ter­hin zu ent­de­cken und aus­zu­bau­en. 

Rit: Wir wis­sen, dass gera­de die dar­stel­len­den Küns­te vom phy­si­schen Kon­takt unter­ein­an­der und mit einem Publi­kum leben. Und doch ist es wich­tig, in die­ser Zeit jetzt den Blick weni­ger auf die Beschrän­kun­gen als auf die Vor­zü­ge zu rich­ten: Wir hof­fen, dass die­se Peri­ode uns am Ende neue didak­ti­sche Stra­te­gien und metho­di­sche Instru­men­te eröff­net, die uns alle haben wach­sen lassen.

Ler: Ich bin über­zeugt davon, dass wir eine neue Stim­me der Ermu­ti­gung erhe­ben kön­nen: Wir inves­tie­ren jetzt in das per­sön­li­che inne­re Wachs­tum, in eine neue Art von Klas­sen­zu­sam­men­halt, in das eige­ne Leben, damit auch in die­ser Zeit Vor­zü­ge gese­hen wer­den kön­nen. Viel­leicht kön­nen wir sie nicht sofort wahr­neh­men, viel­leicht wer­den für die dar­stel­len­den Küns­te Dar­stel­lun­gen aus­blei­ben – aber wir gewin­nen huma­ne Küns­te: Die Kunst, per­sön­li­che Anstren­gun­gen auf ein gemein­sa­mes Ziel zu rich­ten, die Kunst der Geduld, die Kunst, neue Kapa­zi­tä­ten in begrenz­ten Bedin­gun­gen zu erzie­len, die Kunst der Resi­li­enz. Wir kön­nen die­se Peri­ode dafür nut­zen, jeden künst­le­ri­schen Aus­druck als mensch­li­che Tugend zu ver­kör­pern. In die­sen Momen­ten stär­ken die alten Tra­di­tio­nen die neu­en Tech­no­lo­gien – wie noch jun­ge Bäu­me mit tie­fen und sta­bi­len Wur­zeln bei auf­zie­hen­den Stür­men hohe und fle­xi­ble Bäu­me wer­den, die im Früh­ling erblü­hen: Leben­di­ge Traditionen.

Erstellt: 4. Juni 2021 
Aktua­li­siert: 8. Juni 2021 

Schul.Theater

Die Seite Schul.Theater lädt alle am Schultheater interessierten Menschen in fünf digitalen Räumen dazu ein, sich über Grenzen hinweg zu inspirieren und zu informieren, zu verbinden und im Forum in den Austausch zu kommen.

Forum Schultheater

Diese Seite wird gerade neu eingerichtet. Bald gibt es hier mehr!